18-003 Echte Pioniere und leckere Pausensnacks

An manchen Orten auf dieser Welt ahnt man, dass der feste Boden, auf dem wir alle zu stehen meinen, doch nur eine dünne Haut ist. Auf Island beispielsweise, im Timanfaya-Nationalpark auf Lanzarote, rings um den Vesuv in Italien, um den Ätna, auf Stromboli – überall dort, wo man das brodelnde Innere unseres Planeten deutlich spürt und bisweilen sogar sieht.

Manchmal reißt die dünne Haut der Erde auf und dann bricht das hervor, was vom Volumen her den größten Teil unseres Planeten ausmacht: eine glühende Masse, die innerhalb kurzer Zeit alles Leben vernichtet und auf der wir dennoch alle leben.

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Ist die Lava, die sich über die Landschaft ergossen und gnadenlos alles unter sich begraben und verbrannt hat, abgekühlt, bleibt eine Mondlandschaft zurück. Meist ist das Gestein nach dem Erkalten so scharfkantig, dass selbst das Laufen über diese Lavafelder ein gefährliches Unterfangen darstellt.

Es gibt Regionen, da wird ein Teil dieses Materials genutzt, es kann in der Landwirtschaft helfen, insbesondere am Vesuv weiß man das zu schätzen.

Aber im üblichen Fall, ohne menschliches Eingreifen, ist der Lavaboden auf längere Zeit für Lebewesen nicht bewohnbar. Und mit „längere Zeit“ meine ich eine Spanne von vielleicht 200 bis 300 Jahren. Die Natur nimmt nun einmal keine Rücksicht auf die ziemlich kurze Lebenszeit der Spezies Mensch.

Dann jedoch bilden sich auf den schroffen Steinen seltsame grünliche und gelbliche Gebilde, die beinahe wie Blüten aussehen. Würde in der Natur auf strikte Rassentrennung und Reinhaltung der Arten geachtet, würde auch das nicht passieren. Was eine Art alleine nicht schafft, sich nämlich auf dem Lavaboden anzusiedeln, ihn urbar zu machen, das gelingt, wenn sich zwei völlig verschiedene Arten zusammentun und eine Symbiose bilden.

Es folgt der Auftritt der wahren Helden, der Pioniere der Evolution: der Auftritt der Flechten!

Flechten sind Mischwesen, bestehend aus zwei unterschiedlichen Bestandteilen, die eine innige Beziehung eingehen. Da ist zum einen ein Pilz, der seine Fähigkeit mitbringt, sich auf dem Boden festzusetzen. Und dieser Pilz tut sich (in den meisten Fällen) mit eine Alge zusammen, die in die Ehe ihr reiches Innenleben mitbringt: Chlorophyll.

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Fertig ist das perfekte Geschöpf, um tote Lavaflächen zu neuem Leben zu erwecken. Der Pilz liefert Halt, die Alge kann das Sonnenlicht in Energie umwandeln (ach ja, Photosynthese, da war doch was im Bio-Unterricht, was wir nie so recht begriffen haben…), ab und zu ein paar Tropfen Regen vom Himmel dazu – das genügt.

So lässt es sich leben – zumindest für die Flechte. Nebenher produziert sie als Abfallprodukt eine Säure, welche den Boden ganz langsam zersetzt und mürbe macht – unabdingbare Voraussetzung für alle, die danach kommen. Denn nach wieder etwa 200 oder 300 Jahren, in denen die Flechtenkolonie das Gebiet ganz für sich allein hatte, ist ihr eigentliches Werk vollendet: Der Boden ist urbar gemacht, mürbe durch die Säure und mit einer dünnen Lage abgestorbener Flechten, einer ersten Schicht „Mutterboden“ versehen.

Andere Pflanzen können sich nun endlich ansiedeln. Die Natur zieht sozusagen die High-Heels an – sie wächst nach oben. Die Flechte war darauf angewiesen, am Boden kleben zu bleiben, der von ihr aufbereitete Grund lässt nun Gräser, Moose und erste kleine Büsche wachsen. Die streben alle zum Licht, bilden Blätter – und nehmen damit den Flechten am Boden weg, das sie zu Leben brauchen, das Sonnenlicht. Die Flechten sterben ab.

Sie haben über Jahrhunderte die Drecksarbeit gemacht, nun kommen andere und profitieren davon und die Flechten gehen zugrunde. Das ist ja so was von ungerecht.

Das Interessante an der Natur ist, dass sie sich um menschliche Moralkategorien überhaupt nicht schert. Die Natur macht das, was sie für richtig hält, ob wir das nun gut finden oder nicht. Damit ist sie seit Milliarden Jahren gut gefahren.

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©Kalahari – Afrika Spezial Safaris, Dresden

Um ein anderes Beispiel zu nennen: In den afrikanischen Nationalparks sind die meisten Touristen zunächst von den Antilopen begeistert. Ganz besonders beliebt sind die Springböcken (wegen ihrer faszinierenden Sprungtechnik) oder die Kudu- und Oryx-Antilopen (wegen der eleganten Hörner). Und dann gibt es die Impalas. Die sind in ihrer Bambihaftigkeit kaum zu übertreffen, man möchte sie dauernd streicheln und knuddeln, so süß sehen sie aus.

Gut, es gibt sehr viele Antilopen in den Nationalpark, so dass jeder Ranger bei Beginn einer Beobachtungsfahrt schon mal die Losung ausgibt: Für Antilopen wird nicht angehalten. Aber ein Foto so einer niedlichen Antilope, das möchte jeder in der Kamera haben. Die Impalas haben eine richtige menschliche Lobby, wenn sie aus ihren großen Augen in die Welt gucken.

Und sie haben in den Parks eine ganz genau festgelegte Funktion: Impalas sind in erster Linie als leckere Pausensnacks für Löwen, Leoparden, Geparden, Wildhunde und Hyänen gedacht.

Oh, wie gemein! Böse Natur, böse Löwen, böse Hyänen, ausgerechnet die armen kleinen Impalas!

Man muss allerdings zugeben, dass in punkto Fluchtverhalten die Impalas nicht gerade die hellsten Kerzen am Leuchter der Evolution sind. Kommt ein Raubtier springen sie erschreckt auf, huch, da kommt ein schrecklicher Löwe, sie rennen los – um nach ein paar Schritten stehen zu bleiben und sich umzudrehen: „Und? Ist der böse Löwe weg?“

Der ist dann meist gerade im Sprung über ihnen.

Also, das können wir aber unseren Kindern nicht erzählen!

Aber solange die Löwen und Hyänen und Leoparden sich nicht von menschlichen Aktivisten zur veganen Lebensweise überreden lassen, wird das wohl so bleiben, auch wenn manches zarte Gemüt einen Schock davonträgt.

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©Kalahari – Afrika Spezial Safaris, Dresden

Die Impalas machen ihre, nennen wir es: suboptimale Fluchttechnik durch eine geradezu überbordende Fruchtbarkeit wieder wett. Ein Impalabock kann bis zu fünfzig Weibchen haben und ihnen regelmäßig zu kleinen Bambis verhelfen.

Hier sorgt also die Natur auf andere Weise dafür, dass den Löwen auf längere Zeit das Frischfleisch nicht ausgeht. Wirkliche Gefahr droht den Impalas auf andere Art: durch Dürreperioden, in denen ihre Nahrung knapp wird. Durch menschliche Jäger, die es für heldenhaft halten, aus sicherer Entfernung möglichst viele Löwen und Leoparden abzuschießen und sich dadurch groß und stark und der Natur überlegen zu fühlen. Wenn die Raubtiere fehlen werden es zu viele Antilopen und das Futter wird knapp.

Die Natur beruht auf Gleichgewicht. Und der Mensch sollte sich in dieses Gleichgewicht nicht allzu oft einmischen. Er sollte nicht erwarten, dass die Natur seine moralischen Ansichten teilt oder gar umsetzt. Er sollte auch nicht glauben, er könne der Natur sagen, was zu tun ist. Er sollte sich nicht einbilden, die Natur beherrschen zu können. Ich habe schon oben geschrieben, dass die Hülle, auf der wir stehen, sehr dünn ist – auch wenn wir glauben, sie sei stabil in alle Ewigkeit.

Der Mensch soll die Natur bewundern, das soll und darf er uneingeschränkt. Seien es die kleinen und unauffälligen Dinge, die man so oft achtlos übersieht, wie eben die Flechten, ohne die aber doch in vielen Gebieten Leben überhaupt erst möglich wird. Seien es die Dinge, die er als „niedlich“ empfindet wie die Impalas. Seien es die bösen, bösen Löwen, die die niedlichen Impalas aufessen (komisch, bei „König der Löwen“ war davon nie die Rede…).

Der Mensch soll die Natur bewundern, das verhilft ihm vielleicht auch zu ein wenig Demut ihr gegenüber. Für die künftigen Jahrhunderte kann eine solche Demut für die Fortexistenz des Lebens auf unserem Planeten nur von Nutzen sein.

18-003 Echte Pioniere und leckere Pausensnacks